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Montag, 26. Juli 2010

Gedanken zum Psalm 126

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Den Psalm 126 übersetzt Luther folgendermaßen: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan! Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. Herr bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben."

Die Frage dieses Psalmes ist die Frage nach Vergangenheit oder Zukunft. In den modernen Bibelbesetzungen finden wir die Vergangenheitsform: “Als der Herr das Los
der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende.” (Einheitsübersetzung) oder “Als der Herr uns heimbrachte, zurück zum Berg Zion, da kamen wir uns vor wie im Traum.” (Gute Nachricht Bibel) Luther übersetzt Zukunft: "Wenn der Herr erlösen wird".

Spüren Sie den Unterschied: Wenn ich in der Zukunft bleibe, rede ich von einer Sehnsucht, die sich in die nicht weiter bestimmte Zukunft richtet. Ja, es ist ein Hoffnungssatz, aber er bleibt vage. Wenn ich aber die Vergangenheit benutze, dann klingt es anders: “Als der Herr die Gefangenen befreite, da waren wir wie Träumende". Jetzt rede ich von einer ganz konkreten Erinnerung. Gottes Hilfe und rettende Kraft sind eine geschichtliche Erfahrung. Hier erfahre ich etwas über Gott. Der Psalmbeter sagt: Erinnert ihr euch, als Gott unsere Gefangenen befreite, wie glücklich wir waren. So ist unser Gott. So handelt er.

Ich erfahre auch über diesen Gott, daß er mit sich reden läßt. Ich setze mich zu ihm in Verbindung und behafte ihn auf sein vergangenes Handeln. So, wie du einmal getan hast, so tue nun erneut! Ich kann die Erinnerung der Geschichte als Hoffnung in die Zukunft verlängern.

Damals als Gott in einer ganz bestimmten Krisensituation an mir Gutes getan hat. Es braucht nur eine einzige dieser Erfahrungen. Eine reicht, um Gott darauf behaften zu können und zu sagen: Tu es wieder! Diese beiden Erkenntnisse machen mir diesen Psalm so wichtig und vielleicht machen diese beiden Dinge auch einen lebendigen und geschichtswirksamen Glauben aus. Die aktive Erinnerung an Gottes Handeln an mir und das Reden, das Inbeziehungbleiben zu diesem Gott, das ihn als Gegenüber immer wieder mit der gewesenen geschichtlichen guten Tat konfrontiert. So entsteht Zukunft, so entsteht Hoffnung.

Wenn wir religionspädagogisch denken, ergibt sich daraus ein ganzes Programm: Was können wir als LehrerInnen und PfarrerInnen tun, damit die Jugendlichen und die Kinder, mit denen wir es zu tun haben so von und zu Gott reden können? Unser Glaube hat für Jugendliche oft keine Gestalt. Keine Form - keinen Körper. Und ist deshalb nicht erkennbar. Aufgabe der Religionspädagogik wäre daher gestaltgebendes Handeln. Versuchen wir, dass in uns Glaube eine Gestalt bekommt für die Jugendlichen. Versuchen wir eine erkennbare Gestalt in unserem Glauben zu sein. dann besteht die Chance, daß die Schülerinnen und Schüler auch wieder eine Gestalt von Glaube für sich selbst erkennen können. Dann nimmt auch Gott wieder Gestalt an. Dann ist Gott erkennbar. Dann ist auch sein Handeln erkennbar - identifizierbar.

Als solcher ist Gott ein Gegenüber, zu dem ich mich in Verbindung setzen kann. Und wenn ich sein Handeln an mir erkennen kann, dann kann ich beten: So wende o Herr mein Schicksal, so wie du es bereits schon einmal getan hast.

Uwe Martini, Studienleiter
(aus Newsletter Februar 2002)

Dann fühlt es sich besser an!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

In meiner Zeit als Gemeindepfarrer kam eines Tages eine Konfirmandin zu mir
mit sichtbar schlechtem Gewissen. Irgendetwas bedrückte sie. Unsere Kirche
lag etwas ausserhalb des Dorfes und Stefanie hatte die Aufgabe, bei
Beerdigungen zur Kirche zu laufen und zu Beginn der Trauerfeier auf dem
Friedhof die Glocken der Kirche zu läuten. Deshalb hatte sie auch einen
Kirchenschlüssel zu Hause. Die Nachbarin von Stefanie war unsere Küsterin
und über sie ist Stefanie auch zu diesem kleinen Nebenverdienst gekommen.
Also, eines Tages stand sie vor mir und druckste herum und schließlich
sprudelte es aus ihr heraus. "Ich habe Jessie getauft. War das falsch? Was
sagt Gott bloß dazu?" Jessie war ein gutmütiger Labradorrüde und der beste
Freund von Stefanie. Stefanie war ein sehr intelligentes und sehr sensibles
Mädchen. Und oft alleine. Der Hund war ihr Ein und Alles und der treue
Begleiter an ihrer Seite. Ihm vertraute sie ihre Träume an. Er schlief bei
ihr nachts neben dem Bett, ihm erzählte sie ahre kleinen und großen
Lebensgeheimnisse. Es stellte sich heraus, dass sie eines Tages Jessie
mitgenommen hatte zum Läuten. Nach dem Beerdigungsläuten hat sie mit allem
Drum und Dran entsprechend der "Nottauf-Liturgie" aus dem Evangelischen
Gesangbuch am Taufbecken unserer Kirche ihren Hund getauft. Nun hatte sie
Gewissensbisse.

Ich finde, wir können von Stefanie lernen. Nicht dass wir jetzt alle unsere
liebgewonnenen Haustiere zur Taufe bringen. Aber mir hat imponiert, dass
dieses Konfirmandenmädchen voller Vertrauen, das Allerliebste ihres Lebens
in Gottes Hände und Obhut gegeben hat und dafür auch grobe Regelverletzungen und möglicherweise entsprechende Konsequenzen in Kauf genommen hat.

Sind wir zu solch einer Tat in der Lage? Wie sieht es bei Ihnen aus? Geben
wir noch unser Allerliebstea und Allerwichtigstes in Gottes Obhut und in
Seine Hände? Der Lebenspartner, die Kinder, die Schüler, die Arbeit, die
Kirche, die Arbeit im Verein, die Eltern, was wäre es bei Ihnen? Reden Sie
mal mit Ihren Schülerinnen und Schülern über diese Geschichte.
Stefanie hat ihren Hund getauft. Ohne ihn hat sie sich ihr Leben nicht
vorstellen können. Das hat sie Gott anvertraut. "Danach hat es sich besser
angefühlt", hat sie gesagt. Das habe ich von ihr gelernt.
Ihr
Uwe Martini
Direktor RPZ Schönberg

Sind Sie glücklich?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

"Sind Sie glücklich?" Ich habe gerade ein Buch zu Ende gelesen, einen
Reisebericht mit dem Titel "Reise durch einen einsamen Kontinent" von
Andreas Altmann. Der Autor fragt alle möglichen Menschen, die er auf seiner
Reise durch Lateinamerika trifft: "Sind Sie glücklich?" Fast alle sagen
"Ja!" Aber er erhält die unterschiedlichsten Begründungen. Antonio, ein
Friedhofsarbeiter aus Kolumbien: "Weil ich lebe". Manuel, der im Bus in Cali
selbstgemalte Bilder verkauft: "Ja, wenn ich Geld habe". Der Taxifahrer in
Guayaquil: "Klar, weil ich nicht mehr verlange, als ich habe." Alle
Antworten haben etwas gemeinsam. Sie beinhalten den Dank für das Leben -
enfach so. Am Leben zu sein heißt , glücklich sein. Das ist in den armen
Volksgruppen Lateinamerikas eine sehr drastische und unmittelbare Erfahrung
von Glück (eine Erfahrung, die ein Licht auf die Verhältnisse von
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf unserer Erde wirft).
Wie sieht es bei uns aus: "Sind Sie glücklich?" "Und wenn ja: Warum?"

Das Tragische an dem oben genannten Buch ist, dass der Autor selbst keinen
glücklichen Eindruck macht. Wir sind am Leben und unser Leben als solches
ist nicht unmittelbar bedroht. Trotzdem weisen uns die Antworten der
Befragten aus Altmanns Buch auf den einzigen Grund für das Glück: Das Leben.
Ich lebe, ich existiere, es gibt mich, ich bin jemand und um mich herum gibt
es viele viele andere.
In der Jahreslosung 2008 sagt Christus: "Ich lebe und ihr sollt auch leben!"


Also: Seien Sie glücklich!
Ihr
Uwe Martini
Direktor RPZ Schönberg

Von der Notwendigkeit, neu sehen zu lernen

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Kürzlich ist mir ein Buch wieder in die Hände gefallen: “Die Füße nach oben. Zustand und Zukunft einer verkehrten Welt”. Autor ist Eduardo Galeano, einer der schärfsten Denker Lateinamerikas. Das Buch ist eine Bestandsaufnahme der Welt mit einem Blick von unten, mit einem Blick aus Lateinamerika -nicht von den Zentren her, sondern von der Peripherie. Da sieht man anders. Anders zu sehen kann und muß gelernt werden. Aus einem anderen Blickwinkel die Dinge betrachten, das ist eine Übung, die mir im Unterricht immer wichtiger wird, weil sie Offenbarungen schafft:

Ich sehe Neues. Ich sehe Dinge, die ich nicht entdecken soll. Ich widerstehe den gängigen, herrschenden Interpretationsmustern. Immer dann wenn es mir gelingt, mit den Schülern gemeinsam einen neuen Blickwinkel einzunehmen, wird Unterricht spannend. Eine aktuelle politische Anmerkung: Es beschleicht mich zunehmend der Verdacht, dass man uns gegenwärtig dazu bringen will, die aktuelle weltpolitische Lage aus einem ganz bestimmten festgelegten Blickwinkel zu sehen. In mir wächst der Verdacht, dass die Wahrheit dabei auf der Strecke bleiben wird.

Das Buch von Galenao ist für uns in den Metropolen eine Sehschule. Und als Schule ist es angelegt. Es versucht aufzudecken, wie die verkehrte Welt uns schulen will, damit wir diese verkehrte Welt als richtige Welt sehen und verstehen und bestätigen. Das Inhaltsverzeichnis nennt sich Lehrplan und die einzelnen Kapitel lauten: Grundkurs in Ungerechtigkeit, Angstunterricht, Meisterklassen in Straffreiheit, Pädagogik der Einsamkeit. Das Buch endet mit der Gegenschule und dem Recht auf Phantasie.

Eine Leseprobe:
“Vom Standpunkt des Ostens der Welt aus ist der Tag des Westens die Nacht. In Indien tragen die Trauernden Weiß. Im alten Europa war Schwarz. die Farbe der fruchtbaren Erde, auch die Farbe des Lebens und das Weiß, die Farbe der Knochen, war die Farbe des Todes. Den weisen Alten der Region Chocó in Kolumbien nach waren Adam und Eva schwarz, und schwarz waren auch ihre Söhne Kain und Abel. Als Kain seinen Bruder mit einem Knüppelhieb erschlug, tobte Gott vor Wut. Im Angesichts des Zornes Gottes erbleichte der Mörder vor Schuldgefühl und Angst, und er wurde so bleich, dass er bis an das Ende seiner Tage weiß blieb. Wir Weißen sind also alle Nachkommen des Kain.” Als Religionslehrerinnen und -lehrer, als Pfarrerinnen und Pfarrer sind wir berufen zu fragen: Wie sieht der Blick Gottes aus? Einen anderen Menschen mit Augen Gottes sehen, in ihm den von Gott so gewollten Menschen erkennen, das ändert vieles. Mit Gottes Augen auf den Krieg gegen Afghanistan und gegen den Terrorismus schauen. Was ändert sich dann? Meine Wege sind nicht eure Wege und meine Gedanken sind nicht eure Gedanken. Das ist die radikalste Sehschule, die es gibt. Lassen Sie uns in diese Sehschule gehen, damit wir Gottes Blickwinkel unterrichten können.


Herzliche Grüße, Uwe Martini, Studienleiter

(aus Newsletter November 2001)

Das Prinzip des Stärkeren und der Gott der Schwachheit

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Ein Kollege erzählte mir letzte Woche von der Betroffenheit seiner Schülerinnen und Schüler angesichts der Attentate in den USA. Sie forderten, in der Klasse eine Andacht zu feiern. Sie zündeten Kerzen an im Unterricht und schrieben Briefe an Präsident Bush.

Letzten Freitag während eines Treffens im RPA klagte eine andere Kollegin: “Wir haben es kaum geschafft, in der Klasse Raum zu schaffen für eine andere Meinung als nur: Afghanistan muss platt gemacht werden”. Die Erziehung zur Friedensfähigkeit wird in Zukunft eines der herausragenden Themen unserer Arbeit werden. Und einer der zentralen Begriffe, um die wir uns dringend kümmern müssen ist der Begriff der Stärke. Was dort in den USA getobt hat, ist das Prinzip der Stärke. Die immer Stärke zeigende Supermacht sollte durch einen Stärkeren in die Knie gezwungen werden. Und nun im Gegenzug geht es wieder darum Stärke zu zeigen.

Dieses Prinzip: “Der Stärkere setzt sich durch” ist ein Prinzip, das von vorneherein den Gedanken an Gerechtigkeit überhaupt nicht zulässt. Unsere Gesellschaft ist von diesem Prinzip durchdrungen. Unsere Kinder wachsen mit diesem Prinzip auf. Sie lernen es in den Familien, sie lernen es auch von uns in Kindergärten und Schulen. Am Dienstag morgen stand in einer Gießener Zeitung: “16 % der 10-16 jährigen in Deutschland geben an, regelmäßig drangsaliert oder von anderen ausgegrenzt zu werden.”

“Der Stärkere setzt sich durch”. Das Fatale ist, dass auch wir gegen dieses Prinzip nicht immun sind , im Gegenteil. Wir wollen stark sein, Schwäche zeigen ist unangenehm. Wir wollen uns durchsetzen, nicht die Looser sein. Der Stärkere ist der Sieger. Es wird notwendig sein hier andere Bilder zu entwickeln, an denen sich unsere Kinder und Jugendlichen orientieren können.

Der RU gewinnt in dieser Aufgabe eine zunehmende Bedeutung. Denn wir stehen hier im Zentrum des christlichen Glaubens: “Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei”, so Micha. Und Paulus schreibt: “Und das Geringe vor der Welt hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist.” Unser Gott hat das Schwache erwählt. Unser Gott ist ein Gott, der das kleine groß macht und das Schwache stark und das Geringe zum Überwinder. Er selbst hat sich gering und schwach gemacht, um diese Welt zu retten. Aus dem Schwachen kommt das Heil für das Ganze.

Aus diesem Stoff gilt es, Zukunftsvisionen zu bauen, die für Jugendliche attraktiv sind und denen sie trauen können. Das muss der Religionsunterricht in Zukunft leisten, wenn er etwas taugen soll. Daran werden wir uns messen lassen müssen. Erziehung zur Friedensfähigkeit ist eine Aufgabe der ganzen Schule und Schule hat das längst erkannt, dazu bedarf es nicht der Kirche. Schule ist auch bereits auf diesem Weg.

In dieser Anstrengung muß jedoch dem RU ein Platz zugewiesen werden, der seiner tatsächlichen Bedeutung gerecht wird. Das beginnt bei uns Unterrichtenden. Wir dürfen unseren RU nicht selbst krankmelden. In diesem Schuljahr kamen alleine drei Kolleginnen zu mir, die sich mit dem Gedanken trugen, ihre Fakultas niederzulegen, weil es so schwierig sei mit dem Religionsunterricht und er an ihrer Schule so schwierig eingerichtet ist: Lerngruppen schulformübergreifend, jahrgangsübergreifend, Randstunden, usw. Ich habe nichts wieder von ihnen gehört und hoffe sie haben es sich noch einmal überlegt und haben neuen Mut gefaßt. Treten Sie an Ihren Schulen ein für eine Stärkung dieses kleinen Faches. In diesem kleinen Fach werden die großen Fragen des Lebens behandelt und unsere Kinder haben ein Recht darauf, sich mit diesen Fragen auseinander setzen zu können. Es müssen mehr Gelder für den RU bereitgestellt werden. Es müssen mehr hauptamtliche
Schulpfarrerinnen und Schulpfarrer an die Schulen. Diese müssen mit Seelsorgeaufträgen ausgestattet werden. Auch die Kirchen müssen sich in der Schule stärker finanziell engagieren. Es muß geprüft werden, ob nicht auch Lehrkräfte mit Seelsorgeaufträgen ausgestattet werden können. Der Bereich der schulnahen Jugendarbeit muß verstärkt werden. Und an den Schulen, in denen der RU am Rande existiert, muß er deutlicher in den Blick geraten und gefördert werden. Kollegen und Kolleginnen, die bereit sind ohne Fakultas zu unterrichten brauchen geeignete Weiterbildungsmöglichkeiten und Ermutigung. Und auch die beiden christlichen Kirchen müssen deutlicher und zielbewusster miteinander reden. Es müssen alternative Regelungen gefunden werden, die es verhindern, dass der Ru aus seiner eigenen konfessionellen Gestalt heraus, sich ins schulische Abseits begibt.
Ich bin überzeugt davon, dass dem RU für die ganze Schulgemeinschaft eine zunehmende Wichtigkeit zukommt. Lassen Sie uns diesen Prozeß nach unseren Möglichkeiten fördern und stärken.

Vielen Dank.
Ihr Uwe Martini, Studienleiter

(Ansprache auf dem LehrerInnentag 2001 in Lich)

Unsere Begabungen

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Eine Kollegin überreichte mir kürzlich folgende Geschichte. Ihr Titel: "Das Konzept individueller Unterschiede". Und sie geht so: "Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Tiere eine Schule. Das Curriculum bestand aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen, und alle Tiere wurden in allen Fächern unterrichtet. Die Ente war gut im Schwimmen; besser sogar als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser Fall. Da sie in diesem Fach so schlechte Noten hatte, mußte sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen noch durchschnittlich war. Durchschnittliche Noten waren aber akzeptabel, darum machte sich niemand Gedanken darum, außer: die Ente.

Der Adler wurde als Problemschüler angesehen und unnachsichtig und streng gemaßregelt, da er, obwohl er in der Kletterklasse alle anderen darin schlug, darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden. Das Kaninchen war anfänglich im Laufen an der Spitze der Klasse, aber es bekam einen Nervenzusammenbruch und mußte von der Schule abgehen wegen des vielen Nachhilfeunterrichts im Schwimmen. Das Eichhörnchen war Klassenbester im Klettern, aber sein Fluglehrer ließ ihn seine Flugstunden am Boden beginnen, anstatt vom Baumwipfel herunter. Es bekam Muskelkater durch Überanstrengung bei den Startübungen und immer mehr "Dreien" im Klettern und "Fünfen" im Rennen. Die mit Sinn fürs praktische begabten Präriehunde gaben ihre Jungen zum Dachs in die Lehre, als die Schulbehörde es ablehnte, Buddeln in das Curriculum aufzunehmen. Am Ende des Jahres hielt ein anormaler Aal, der gut schwimmen und etwas rennen, klettern und fliegen konnte, als Schulbester die Schlußansprache."

Was soll man von dieser Geschichte halten? Sind unsere Schulen wirklich so deprimierend? Ich finde nicht und ich finde es schade, dass die Geschichte so endet. Sie hätte eigentlich einen besseren Schluss verdient. Daher möchte ich die Geschichte gerne umschreiben. Dazu bedarf es eigentlich nicht viel: Ein Kollegium, das aufmerksam ist für die unterschiedlichen Begabungen der Kinder und Jugendlichen. Eine Lehrerin / ein Lehrer, der/die nachfragt, wenn bei einem Schüler Defizite auftreten. Eine Änderung unseres Blickwinkels: Nicht auf die Schwächen schauen und diese "auffüllen" wollen, sondern verstärkt auf die jeweiligen Stärken der Kinder schauen und diese ganz besonders fordern und fördern.

Dies kann gerade im Religionsunterricht besonders gut gelingen. Denken Sie an den Psalm 139: "Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele", heißt es dort im Vers 14. Ich bin wunderbar gemacht. Das gilt für mich, das gilt für meine Schülerinnen und Schüler. Wer das erkennt, der kann ganz anders mit sich und mit anderen Menschen umgehen. Dann geht es nämlich darum, das zu entdecken, was Gutes, was an Begabungen, an Fähigkeiten, an Gaben in mir und den anderen verborgen liegt.

Das wäre ein pädagogisches Konzept für einen Unterricht, der Freude macht.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter September 2001)

Der Heidenkönig und die Erdbeeren

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

Mitten in einer Gemarkung zwischen Staufenberg und Friedelhausen sieht man einen kleinen Hügel, der an ein keltisches Hügelgrab erinnert. Auf diesem Hügel steht ein Stein mit der Inschrift :"Hier ruht der stolze Heidenkönig, der dem Glauben seiner Väter treu für seine großen alten Götter starb".   Wir stießen beim Spaziergang mit unseren Hunden drauf und sofort entspannen sich jede Menge Phantasien. Noch auf dem Heimweg wuchs die Idee: "Super wäre  ein Gottesdienst im Freien am Heidenkönig".  Das Christentum, keltische Geschichte, Glaubenskämpfe, ach was mag  sich da alles in der Aue hinter Staufenberg sich abgespielt haben. Zurück zu Hause dann intensiv gegoogelt und wir stießen auf Ariovist, der Heerführer der germanischen Sueben, der  sich nach seiner Niederlage gegen Caesar in der Wetterau zurückgezogen haben soll, und jede Menge anderer Dinge. Eine römische Heerstraße geht in der Tat dort oben vorbei...  Meine Frau, die als Pfarrerin sehr innovationsfreudig ist, beschloss: An Pfingsten eine gottesdienstliche Wanderung zum Heidenkönig mit verschiedenen Stationen und kleinen Andachten.  Der Kirchenvorstand war einverstanden. Wir fingen an zu forschen und fragten Heimatkundler und groß war unsere Enttäuschung als wir feststellen mussten: Ein Fake. Der Stein wurde errichtet im 19. Jahrhundert vom Grafen zu Friedelhausen, um seine aus Schottland stammende Frau, die krank vor Heimweh war, zu erfreuen. Kein König der Heiden, kein Glaubensdrama, kein keltisches Erbe.   Die gottesdienstliche Wanderung machten wir dennoch. (Bilder kann man auf unserer Gemeindewebseite ansehen.)  Und es war ein sehr schöner Gottesdienst und ein sehr schöner Spaziergang.

Eine Woche vorher hatten meine Frau und ich den Weg schon einmal probeweise abgeschritten. Oben in der Gemarkung liegen große Felder eines ortsansäßigen Bauern, der seit einigen Jahren auf Bio-Landwirtschaft umgestellt hat und vor allem Kräuter anbaut für Tees, Medikamente und anderes. Es ist sehr angenehm dort spazieren zu gehen, weil der Duft der Kräuter über den Feldern liegt und wohltut. dann ging es um die Ecke, runter zum Heidenkönig. Und vor uns lagen riesige Erdbeerfelder, enorme Felder. der erste Gedanke: Wer soll das denn ernten?  Und in unserer Phantasie sahen wir die unterbezahlten Arbeitskräfte aus der ehemaligen Sowjetunion, die zu Hungerlöhnen als Erntearbeiter mit schwerster Arbeit ihren kärglichen Lebensunterhalt verdienten.  "Tja dachten wir: Bio ist gut und schön, aber die Kehrseite ist auch nicht golden. Aber wer weiß schon, wie die alternativen Tees geerntet werden."   An Pfingsten selbst ging der Bauer und seine Familie mit auf die gottesdienstliche Tour und wir fragten ihn natürlich nach den Erntearbeitern. Er schaute uns verwundert an: "Die Früchte interessieren mich gar nicht. Wir ernten mit unseren Erntemaschinen nur die Blätter. Die werden bestimmten Tees beigemischt". Kein Skandal also. Alles war ganz anders als wir es dachten. Und mir fiel der Heidenkönig ein.

 

Es ist anscheinend oft nicht so, wie es aussieht. Und oft machen wir uns ein Urteil auf Grund dessen, was wir sehen. Ich dachte an das Wort, dass Gott das Herz ansieht und mir fielen auch einige Menschen ein, die ich falsch eingeschätzt habe, von denen ich etwas "gesehen habe" und mir ein Urteil bildete. Mir fallen Schüler ein, von denen ich ein Urteil habe, auf Grund von Dingen, die ich "gesehen" habe. Wer weiß...

Wie ist es bei Ihnen? Der Mensch sieht was vor Augen ist. Die Erdbeeren und der Heidenkönig haben mir geholfen, die Urteile, an die ich fest glaubte, etwas zu  hinterfragen. Vielleicht ist xy gar nicht so hochnäsig, vielleicht ist yz gar nicht so eine Rotnasig? Gott sieht das Herz an. Ich kann das nicht. Im Umgang mit Schülern und mit Kollegen scheint mir diese Einsicht zu helfen.

 

Liebe Grüße

 

Ihr

Ihr Uwe Martini , Direktor RPZ Schönberg

Auf Entdeckungsreise in der Jugendkultur

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lieber Bernd

Ich möchte Ihnen gerne zu Beginn einige Äußerungen von Jugendlichen vortragen. Konfirmandinnen und Konfirmanden auf die Frage wie wohl die Welt und das Leben auf dieser Welt entstanden sein mag.

Björn: Eigentlich habe ich über solche Fragen noch nie richtig nachgedacht. Das, was in der Bibel steht ist zwar schwer vorzustellen, aber es erscheint mir logischer als die Theorie mit dem Urknall.

Maike: Ich stamme von meinen Eltern ab, diese wiederum von ihren und diese ebenso von ihren. Doch diese Spur verliert sich irgendwann. Wendet man sich mit diesen Fragen an die Naturwissenschaften, erhält man meistens die Urknalltheorie als Antwort. Doch was war davor, vor der Entstehung des Weltalls? Auch die Erklärung der Kirche kann mich nicht wirklich überzeugen. Ist die Menschheit wirklich aus zwei einzelnen Individuen entstanden? Ich selbst kann mir diese Fragen nicht richtig beantworten. Vielleicht müssen wir einfach mit dieser Unwissenheit leben, bis wir eine für uns plausible Antwort gefunden haben, wenn dies auch ein Leben lang dauern kann.

Melissa: Ich bin eine Seele in einem Körper. Ich bin zwar auch ein Körper, doch denke ich, dass ich niemand anders wäre, hätte ich schwarze Haare und eine braune Haut. Vielmehr macht meine Seele mich aus, in der meine Erinnerungen gespeichert sind und aus der heraus mein Wille stammt. Mein Körper reagiert auf meine Seele, zum Beispiel mit Müdigkeit oder Krankheit. Wenn ich sterbe, stirbt mein Körper, nicht aber meine Seele.

Steffen: Ich bin ich. Ich stamme aus der Spezie Mensch und lebe unter ihnen. Ich halte mich nicht für etwas besonderes, trotzdem bin ich nicht nur einer unter vielen.

Bennie: Die Erde ist vor sehr langer Zeit entstanden durch den sogenannten Urknall. daran waren viele Meteoriten, Kometen und anderes Zeugs schuld, die sich nach und nach angesammelt haben und schließlich zu dem wurden, was wir heute Erde nennen. Wo jetzt aber diese Kometen, das Leben, die Atmosphäre, das Wasser und er ganze Rest hergekommen sind, das weiß ich nicht.

Klara: Alles, was existiert, so wie wir Menschen, hat einen Anfang und ein Ende. Von den Wissenschaftlern bekommt man erzählt, dass es vor Abermillionen Jahren einen Urknall gegeben haben muss. Im Religionsunterricht lernen wir, dass Gott die Welt erschaffen hat. Aber ich glaube, dass keines von beiden wahr ist und man die Wahrheit darüber nie erfahren wird.

Gedanken, Überlegungen, Glaubensvorstellungen von Jugendlichen. Wenn wir uns als Pfarrerinnen, Religionspädagogen oder Seelsorgerinnen auf den Weg machen um solche jugendliche Lebenswelten und Gedankenwelten zu erkunden , ergeht es uns wie den Stammesforschern, die in unbekannte Welten vorstoßen und die Lebensbedingungen fremder Stämme und Völker studieren. Wir zeichnen Landarten von uns unbekannten Gegenden, beobachten intensiv, oftmals ohne zu verstehen und verstehen zu können. Wir beschreiben und versuchen zu deuten, scheitern, weil wir deuten mit den Kriterien unserer Verstandes- und Lebenswelten und verstehen nicht, dass wir uns in Gefahr befinden uns zu verirren.

Wir sehen keine ausgetretenen Pfade vor uns , sondern befinden uns mitten in einem unübersichtlichen Dschungel. Und auch wenn wir bspw. Lexika der Jugendsprache aufstellen, sprechen wir nie ihre Sprache. Das muss man wissen und dessen muss man sich bewusst sein, bevor man sich auf Jugendliche und ihre Welten einlässt. Dennoch ist es unbedingt notwendig, sich ihnen zu nähern und zu versuchen Jugendliche in ihren Lebenswelten zu verstehen. Dies kann nur gelingen, wenn wir versuchen aus der Perspektive der Jugendlichen zu blicken und aus ihrer Perspektive unsere Welt zu verstehen, so paradox dies auch klingen mag. In der Religionspädagogik bezeichnen wir diesen Versuch mit dem Begriff des Perspektivenwechsels.

Ein kleines Beispiel: Warum gehen die Jugendlichen zur Konfirmation? Wenn wir sie befragen, erhalten wir oft die Antwort, der Geschenke wegen und des Geldes. Dies ist eine Einschätzung, die in unseren Kreisen und unseren Kirchenvorständen durchaus gerne negativ und abwertend tradiert wird. Dies ist eine Legende. Natürlich werden die Jugendliche so antworten denn die Alternative bestünde darin zu sagen: „weil ich meinen Glauben stärken möchte“ oder „weil ich an Gott glaube“ und das wäre ein öffentlicher Bekenntnisakt. Aber diese Angelegenheit ist wesentlich vielschichtiger. Die aktuelle Konfirmandenstudie bringt folgendes Bild: 58 % der befragten Jugendlichen nennen als Motivation zur Konfirmation in der Tat Geld oder Geschenke – 55 % wollen ein großes Familienfest feiern. Dies sind die EKHN Werte, bei den EKD Daten ist diese Reihenfolge umgekehrt. An dritter und vierter Stelle wird genannt: der Segen mit 48% und die Stärkung des Glaubens an Gott mit 41% . Die Jugendlichen möchten beschenkt, gefeiert, gesegnet und gestärkt werden. Der vermeintliche Widerspruch Geld oder Segen löst sich auf in den unmittelbar deutlich werdenden Wunsch wertgeschätzt zu werden: Beschenkt , Gefeiert und Gesegnet.

Dies soll die zentrale These meines heutigen Impulsreferates sein. Jugendliche heute suchen nach Wertschätzung, denn unsere Gesellschaft verweigert ihnen diese Wertschätzung.

Als die Konfi Studie Anfang März veröffentlicht wurde, ging durch die Nachrichten das Attentat von Winnenden. Ich saß an meinem Schreibtisch zuhause und versuchte eine erste vorsichtige Einschätzung der Daten der Studie und schrieb gerade an diesem Gedanken, dass es den Jugendlichen heute in unserer Gesellschaft fehlt wertgeschätzt zu werden, dass sie gefeiert werden wollen, im Mittelpunkt stehen wollen, beschenkt werden wollen, nach Zuneigung suchen und hörte während ich es schrieb – wie gleichsam das Echo meiner Schrift in den Worten eines Polizeisprechers im Radio, der mit meinen Worten zur Konfistudie, das Profil des vermeintlichen Attentäters beschrieb.

Wie nehme ich die Lebenswelten der Jugendlichen war? Man kann vieles dazu sagen. Ich möchte mich uf einen Aspekt beschränken: Den Plural. Jugendliche leben in mehreren Welten gleichzeitig. Und das können sie phantastisch. Darin sind sie enorm kompetent. Es gibt keine einheitlichen Jugendszene mehr. Vor ein paar Jahren habe ich auf DeKonf uns Synoden noch erzählt, dass es keine einheitliche Jugendkultur mehr gibt, dass Jugend an sich nicht mehr definierbar ist in einer Gesellschaft, die das Jugendideal als Leitmotiv gewählt hat und in der auf der einen Seite biologisches Erwachsensein viel früher einsetzt, Unabhängigkeiten zumal wirtschaftliche aber viel später als bspw. in den 50er Jahren beginnen. Mittlerweile ist dieser Prozess deutlich vorangeschritten. Es gibt auch keine eindeutigen und einheitlichen Milieus mehr, wie noch in den 70ern und 80ern und Anfang der 90er. Voneinander abgetrennte Jugendszenen gibt es kaum mehr, anstelle dessen vermischen sich die Milieus untereinander und mit der virtuellen Welt und machen den Raum frei für multidimensionale Identitäten. Jugendliche wechseln von einem Milieu ins andere und fühlen sich sowohl hier wie da zuhause. Sie lassen sich dadurch nicht auf Rollen festlegen wie vor Jahren die Punks, oder die Popper. Die unterschiedlichen Lebensmilieus der Jugendlichen haben ihre je eigenen Regeln (das ist gut, denn in einem der Regelsysteme wird jede und jeder eine Chance haben und aufblühen). Jugendliche spielen in und zwischen diesen Systeme meisterhaft.
Das ist für uns Ältere schwer vorstellbar, weil wir in der Regel milieugebunden leben und milieugebunden auch unsere Identitäten finden und entwickeln. Jugendliche entwickeln ihre Identitäten quer zu den Milieus und quer zu den verschiedenen Kulturen. Deshalb sind wir wie Stammesforscher, weil wir uns diese Lebensart nur schwer vorstellen können.

Auch die Religion, auch die Kirche wird hier zu einem Milieu oder zu einer Kultur, in der sich Jugendliche bewegen lernen. Was bedeutet es für die Herausbildung einer religiösen Identität, wenn von Anfang an die religiöse und diese nochmal unterschieden von der kirchlichen Wirklichkeit eine Wirklichkeit neben vielen anderen war und ist. Die Eltern der Jugendlichen in unserer Gemeinde in Staufenberg wundern sich oft darüber, wie brav ihre Kindern als Konfirmandinnen und Konfirmanden sind. Sie bewegen sich in diesem Milieu nach völlig anderen Regeln als in ihrem Milieu Familie, hier sind sie ganz anders. Religion wird dabei von Jugendlichen heute von Anfang an erlebt als plurales Phänomen. Nicht wenige Kinder haben Eltern, die unterschiedlich religiös geprägt sind, die Klassenkameraden sind Muslime, die Auseinandersetzung der Kulturen und Religionen ist täglicher Stoff der Nachrichten und der Erwachsenengespräche. Die Vorstellung, dass es nur eine Kirche, eine Religion, einen Gott geben könne, ist jenseits der möglichen Vorstellungen. In meiner Jugend hingegen fiel es mir schwer – über Religionsunterricht und kirchliche Jugendarbeit vermittelt - zu erkennen, dass es Menschen gibt, die anders religiös denken und fremden Gottesvorstellungen in meinen Gedanken einen Platz einzuräumen. Die Katholischen waren bei uns auf dem Dorf schon Exoten genug.

Für die Jugendlichen heute ist die Wahrheit der Fremdreligion seit der 1. Klasse spätestens wenn nicht seit dem Kindergarten Teil ihrer erlebten Wirklichkeit. Zu den unterschiedlichen und miteinander kommunizierenden und sich vermischenden Milieus kommen so auch unterschiedliche Wahrheitssysteme, mit denen Jugendliche sehr gut umgehen können. Besser manchmal als wir.

Die unterschiedlichen Systeme von Weltanschauungen werden von Jugendlichen oft nur fragmentarisch zur Deutung von Wirklichkeit in Anspruch genommen werden. Früher nannte man das Patchwork-Religion, aber Patchwork hat zu sehr den Charakter der Selbstbedienung im Supermarkt: Ich nehme mir hiervon etwas und hiervon etwas. Ich glaube so funktioniert es heute nicht mehr. In den Deutungssystemen der Jugendlichen gibt es Felder die doppelt und dreifach besetzt sind. Da können drei Gottesbilder neben und übereinanderstehen: Der Vatergott, der Reinkarnationsgott und der Gott, der in allem ist, was die Natur hervorbringt. Und es gibt Felder die sind leer, da gibt es noch keine Deutungen. Aber das schmerzt Jugendliche auch nicht. Weltanschauliche Leerstellen werden nicht als problematisch empfunden: „Da habe ich eben einfach noch nicht drüber nachgedacht“, oder „da wird man die Wahrheit wohl nie erfahren“, wie Klara und Bennie es zu Beginn dieses Referates ausdrückten. Das Gewebe hält sowohl die Doppelttexturen als auch die Löcher gut aus und es trägt und reißt nicht.

Was geschieht hier? Ich glaube, dass sich Wahrheit personifiziert. Die Gegenwart sich überlappender Systeme führt dazu, das Wahrheit begriffen wird nicht als ein System von Aussagen sondern Wahrheit wird identifiziert mit einem authentischen Zeugnis. Wenn eine Person glaubwürdig ist, vertritt sie Wahrheit. Jugendliche lernen an Vorbildern. Jugendliche lernen anhand der Personen, die sich ihnen in den Weg stellen und die ihnen einen Weg zeigen, dass Leben zu meistern. Beziehungen sind der Schlüssel zum Verständnis der Lebenswelten Jugendlicher. Wahrheit konstituiert sich für Jugendliche nicht in Aussagen und in Systemen, in Kirche und Institutionen, nicht in Regelsystemen und Überzeugungen, sondern in den Beziehungen, die dieses Gewebe zusammenhalten und Überzeugungen unterschiedlichster Art miteinander verknüpfen.

Deshalb stimmt der Begriff Patchwork nicht mehr, denn Patchwork, das sind Flicken, die miteinander vernäht werden und am Schluss habe ich eine zusammengestoppelte bunte Decke oder Jacke, aber eigentlich gehört da nichts zusammen und die Nähte sind die Schwachstellen, denn die können reißen. Jugendliche sind mittlerweile weit jenseits der Patchworkwelten, sie „weben“ ihre Wirklichkeit. Um den englischen Begriff zu nehmen: es ist ein Web, ein Gewebe, eine Textur, in dem sie leben und dieses Web umschließt das world wide web ebenso wie die verschiedene sozialen und weltanschaulichen Milieus. Aus diesen Fäden weben Jugendliche Ihre Wirklichkeit und ihre Identität und die ist lebensfähig, tragfähig, stabil. Aber uns ganz fremdartig.

Unsere Aufgabe kann es sein, den christlichen Glauben als einen Faden zur Verfügung zu stellen, damit die Jugendlichen ihn in ihre Texturen hineinweben können. Möglicherweise kann es sein sehr fester Faden sein oder der sprichwörtlich rote Faden.

Das kann aber nur gelingen – und jetzt kehre ich zum Beginn meiner Ausführungen zurück- wenn wir den Jugendlichen mit Wertschätzung entgegengehen. Als ich mein Abitur machte, hatte ich das Gefühl, die Welt würde geradezu auf mich warten. Für Jugendliche heute muss sich diese Erinnerung anmuten wie eine Erzählung aus 1001 Nacht.

Denn unsere Gesellschaft ist sich in sich selbst genug. Ihre Botschaft an die Jugendlichen ist: Wir brauchen euch nicht. Und wenn wir als Kirche den Jugendlichen den christlichen Glauben als Angebot für ein gelingendes Lebens nahebringen wollen, dann ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns ernsthaft für sie interessieren. Das klingt banal ist es aber nicht.

Ich möchte Sie gerne ermutigen in ihrem Lebens-und Arbeitsvollzügen nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir Jugendlichen Wertschätzung entgegenbringen können. Damit unsere Jugendlichen in einer Gesellschaft, die ihnen Wertschätzung verweigert, eine andere Wirklichkeit entdecken können, in der sie beschenkt, gefeiert und gesegnet werden. Wir sind es den Jugendlichen schuldig, denn wir leben als Christen aus der Wirklichkeit eines Gottes heraus, der uns so sehr wertschätzte, das er selbst zu einem Menschen wurde.




Uwe Martini
(Zur Amtseinführung von Bernd Nagel als Studienleiter für Seelsorge in Friedberg 2009)

Meine Zeit steht in deinen Händen

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Ferienzeit geht zu Ende. Ein neues Schuljahr steht vor der Tür. Was wird es bringen?

Gehen Sie mit freudigen Erwartungen in diese neue Zeitspanne hinein, oder ist diese Aussicht eher eine Belastung? "Meine Zeit steht in deinen Händen .." so beginnt ein Lied, das in den letzten Jahren in unserer Gemeinde besonders bei unseren KonfirmandInnen hoch im Kurs stand. Das lag zum einen sicherlich an der eingängigen und balladenhaften Melodie, aber auch an dem was dieses Lied sagt: "Meine Zeit steht in deinen Händen, nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir. Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden. Gib mir ein starkes Herz, mach es fest in dir". Das ist ein faszinierendes Lied. Das erste, was einem auffällt ist, das Wort "stehen".

Unsere Zeit fließt, manchmal schnell manchmal langsam, aber sie entgleitet uns stetig. In Gottes Hand aber steht sie. Für mich heißt das, dass nichts von meiner Lebenszeit verlorengeht. In Gottes Hand werden bewahrt die süßen und die bitteren Momente meines Lebens. Die Zeit, in der ich glücklich bin und die Zeit, in der ich traurig bin. Meine Freuden und meine Lasten. All dies hat in Gottes Hand einen Wert. Er sortiert nicht aus. Es wird nicht gefiltert.

Jeder Moment hat seinen Wert, weil alles zusammen mein Leben ausmacht und weil all diese Zeit und Zeiten zusammen mein Leben und damit auch mich als Person ausmachen. Und dies hängt nicht irgendwo im luftleeren Raum oder über irgendeinem Abgrund, sondern steht in Gottes Hand.

Das ist ein Gedanke, der mir hilft, die Ferienzeit abzuschließen und in das neue Schuljahr hineinzugehen, und zwar sowohl mit freudiger Erwartung, als auch mit bangen Befürchtungen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit diesem Gedanken in das neue Schuljahr gehen können. Und Gott wird uns ein starkes Herz geben, er wird es fest machen, damit wir unsre Zeit bestehen.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter August 2001)

Geschenkte Zeit in der Schule

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

"Tja, nun ist es passiert, das erste Mal in meiner Laufbahn als RU-Lehrerin, dass ich keine Lust auf Schulanfang habe. Sonst habe ich immer vor Ideen gesprüht, aber im Moment tröpfelt es noch nicht mal. Die Erwartungen der Schüler an mich sind ins Unermessliche gestiegen, aber die Bereitschaft, dafür auch mal was zu leisten, und sei es nur, zu Beginn der Stunde ruhig zu sein, ist Limes gegen Null."

Soweit die Nachricht einer Kollegin zum Beginn der Schule nach den Weihnachtsferien. Wir alle kennen Momente des Frustes und der Niedergeschlagenheit. Ich war überrascht, von wie vielen Seiten ich in diesem Januar solche oder ähnlich Äußerungen hörte. Und dann fiel mir vor einigen Tagen ein alter Text von Jürgen Moltmann in die Hände. Moltmann schreibt dort über das Erstaunen: "In der zeitlichen Wirklichkeit des Lebens wiederholt sich nichts im strikten Sinne, sondern jeder Augenblick ist einmalig. Deshalb ist nur das Erstaunen in uns fähig, den einmaligen Augenblick zu erfassen. Wer nicht mehr staunen kann, wer sich an alles gewöhnt hat, wer nur noch routiniert wahrnimmt und reagiert, der lebt an der Wirklichkeit vorbei. Jede Chance ist einmalig. Das gehört zu ihrem Wesen. Es gibt nicht zweimal dieselbe Chance.

Es gibt keine "zweite Chance", denn die Zeit ist irreversibel. ... Wir erstaunen oft auch darüber, daß wir selbst da sind, obgleich wir nicht wissen, warum oder wozu wir da sind. Die das in Erstaunen versetzt, erfahren auch, daß sie wirklich da sind und nicht eine Illusion darstellen. Das heißt, durch Erstaunen erfassen wir das Dasein der Welt und unser eigenes Dasein. Das Was und Wie begreift man später. Das einfache Dasein aber begreift man nie. Es bleibt erstaunlich. Ist es nicht wichtig, unser Erkennen und die Vorstellungen, die wir aus Erfahrungen bilden, und die Begriffe, mit denen wir unsere Vorstellungen ordnen, immer wieder auf das elementare Erstaunen über das Dasein selbst zurückzuführen? Es könnte sonst geschehen, daß wir nur noch unsere Wahrnehmungen wahrnehmen, aber von den Phänomenen nichts mehr sehen. Es könnte sonst geschehen, daß wir nur noch sehen, was wir sehen wollen, und fast blind durch das Leben gehen. Es könnte sonst sein, daß wir die anderen Menschen nicht mehr erkennen, weil wir sie auf unsere Vorurteile über sie festgelegt haben und nur diese bestätigt haben wollen. Es könnte sonst sein, daß wir die Produkte unserer religiösen Phantasie für Gott halten und von dem lebendigen Gott nichts merken. Die Wirklichkeit ist immer überraschender, als wir uns vorzustellen vermögen. Menschen, die wir in ihrer Eigenart achten, bleiben für uns erstaunlich und unser Erstaunen öffnet unserer Gemeinschaft mit ihnen die Freiheit für neue Möglichkeiten der Zukunft."

Soweit der Text von Jürgen Moltmann. Wann waren Sie das letzte mal darüber erstaunt, Lehrerin / Lehrer zu sein? Wann waren Sie das letzte Mal erstaunt, dass Sie in die Schule gehen, um Kindern oder Jugendlichen die erstaunliche Frohe Botschaft unseres Gottes weitersagen zu können? Wann hat Sie eine Schülerin / ein Schüler das letzte Mal richtig in Erstaunen versetzt?

Ich habe mir vorgenommen in Zukunft wieder einmal stärker bewußt drauf zu achten, was mir selbstverständlich wurde mit der Zeit. Ich habe mir vorgenommen jeden Arbeitstag nicht als Teil einer Routine mir widerfahren zu lassen, sondern als einen einmaligen Tag meines Lebens zu begrüßen. Ich möchte gerne jedes Mal, wenn ich in die Schule gehe darauf achten, dass ich dabei bin, eine einmalige und nicht wiederkehrende Situation mit meinen Schülern zu erleben. Vielleicht gelingt es mir. Versuchen Sie es doch auch einmal. Es wäre schön, wenn die Zeit nicht mit uns machen kann, was sie will, sondern wir jeden Tag als von Gott geschenkte einmalige Zeit erleben können.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter Februar 2001 )

Unter welchem Stern steht unser Jahr!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

In der Christnacht feierten wir Gottesdienst in unserer alten Kirche auf dem Kirchberg. Im Mittelpunkt der Christmette stand der Stern von Bethlehem.
Faszinierend, wie uns diese alte Geschichte wieder anrührt: Ein paar Männer folgen in der Dunkelheit in der syrischen Wüste einem Stern, von der sie der Meinung sind, dass er sie zu einem König führen wird, der ein Retter sein soll und das Heil der Welt. Für uns ist diese Geschichte eine Legende. Und als Lehrerinnen und Lehrer fürchten wir die Fragen der Kinder: "War das wirklich so?"

Der Virus der Faktizität, dass wir nur vermeintlich Überprüfbares als Wirklichkeit und Wahrheit zulassen, verstellt uns manchmal den Blick für andere Wirklichkeiten und Wahrheiten. Und wir lehren diese Haltung sogar und geben sie weiter. Dennoch gehört diese alte Geschichte der drei Sterndeuter zu den immer wieder beschworenen Urbildern des wandernden und suchenden Menschen. Wo versteckt sich diese Kraft in dieser Geschichte?

Vielleicht ist es das Vertrauen, einen Stern als Wegweiser zu nehmen. Ein natürliches Phänomen soll Orientierung geben für ein übernatürliches Geschehen. Wie kann ein Naturereignis eine Botschaft haben für die Geschichte der Menschen? Wie erstaunlich, dass die drei Männer damals fest vertrauten: "Was der Stern zeigt, wird sich auf der Erde als wahr erweisen". Es berührt uns, dass diese Männer ein so tiefes Vertrauen hatten und dann auch noch die Gnade erfuhren, ihr Ziel tatsächlich zu erreichen.

Wie oft fehlt uns Vertrauen in unseren Weg, in unsere Ziele - oder gar in einen Gott, der uns Zeichen und Orientierungen schickt. Der Stern von Bethlehem hat in mir in dieser Christnacht die Sehnsucht geweckt, zu achten auf Zeichen und zu suchen nach Zeichen, die Gott uns geben mag. Und im Nachsinnen über diesen Stern und den Weg, den die Sterndeuter zurücklegten, hat mir Mut gemacht, Wirklichkeiten offenzuhalten- für mich selbst und in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Ich wünsche Ihnen, dass Gott Ihnen in diesem neuen Jahr einen Stern schickt, der Ihnen Wege zeigt, die Sie gehen können. Ich wünsche uns allen das Vertrauen darauf, dass Gott uns leitet - dann können wir selbst neue Wirklichkeiten finden und davon erzählen.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter Januar 2001 )

Vorbereitungen auf die Weihnachtszeit

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Heute haben sie in den Giessener Kaufhäusern begonnen, die Weihnachtsdekoration aufzustellen. Es weihnachtet sehr, lange vor Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag. Der Konsum triumphiert über das Kirchenjahr. Wir ReligionspädagogInnen beginnen auch über Weihnachten nachzudenken - aus anderem, einem gutem Grund. Denn oft sind wir schon überrascht worden im Alltag: Was schon wieder Weihnachtszeit? Was soll ich dieses Jahr im Unterricht bloß machen?

Es tut gut, dem Grund der Weihnacht einmal nachzuspüren, als hätten wir dieses Fest noch nie gefeiert. Was macht das Geschehen der Weihnacht aus? Es ist die Menschwerdung Gottes. Sie begründet letztlich das Heilsgeschehen der Weihnacht und macht gleichzeitig ihr großes Geheimnis und ihre Faszination aus. Unser Gott ist zu einem von uns geworden. "Und er wohnte unter ihnen".

Das ist Weihnacht, der Rest ist Legende. Die Geburtslegenden sind Bekenntnisse. Es stört nicht, dass das Geburtsdatum selbst unklar bleibt, dass es wahrscheinlich gar nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth geschehen ist. Die Jungfrauengeburt, als Abbild der zeitgenössischen Gott-Helden- Geburten, begründet nicht unseren Weihnachtsglauben. Dass Herodes wahrscheinlich im Jahre 4 vor Christus starb und die Volkszählung zwar stattgefunden hat aber womöglich Jahre später, all dies ist unwesentlich, weil all dies späte Bekenntnisse eines einzigen und unerhörten Geschehens sind: Gott wurde ein Mensch.

Wenn er nicht Mensch geworden wäre, hätte er unser menschliches Leben nicht geteilt, erlebt, erlitten, ausgefüllt, erspürt, dann hätte er dieses Leben der Menschen nicht erlösen können aus den Zwängen, aus den Brüchigkeiten, aus den Uneindeutigkeiten und aus dem Tode.

Nichts anderes erzählen uns die Legenden der Geburt. Und deshalb ist es gut, dass es sie gibt. Für mich am prägnantesten ausgedrückt hat dies Drewermann, wenn er schreibt:

- Mitten in der Nacht in der Finsternis kommt der Herr zur Welt. Anders könnte er niemals verstehen wie sehr uns Menschen Nacht und Dunkelheit verfolgen kann. Wo wir nichts Menschliches mehr fühlen, wird er da sein , da wird er sagen, daß mitten in der Nacht, im Unbegreifbaren Gott menschliche Gestalt gewinnt und an der Armseligkeit es nichts zu verachten gibt.

- Kalt war es in jener Nacht und so mußte es sein, sonst hätte der Erlöser kein Verständnis für die Herzenskälte in uns und könnte nicht gegen den Verlust der menschlichen Wärme kämpfen. “Er hat unter uns gewohnt”. Vielleicht ist dies das wichtigste Weihnachtswort. (Joh 1) “Er wurde ein Mensch in dieser Welt und teilte das Leben der Menschen” ( Philliper 2,7) Können wir dies in unserem Unterricht vermitteln?

Können wir über die Legenden hinausblicken und den Kindern und Jugendlichen, die uns anvertraut sind, etwas weitergeben von der unbegreiflichen Tatsache, dass Gott einer von uns wurde, weil er es nicht ertragen konnte, getrennt zu sein von uns Menschen. Wenn Sie selbst dieser Unbegreiflichkeit nachspüren, werden Sie selbst erfahren können, was göttliche Liebe heißt und dann können Sie davon erzählen. Das wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter November 2000)

Gedanken zum Schuljahresanfang

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Am 14.8.00 hatte das RPA Giessen zu einer kleinen Feier geladen, um den
Schuljahresanfang zu begehen. Diese Feier begann mit einer kleinen Andacht.
Zugrunde lage der Text aus dem Matthäusevangelium 25,14-33

“Von den anvertrauten Zentnern Denn es ist wie mit einem Menschen, der außer Landes ging: er rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an; dem einen gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, jedem nach seiner Tüchtigkeit, und zog fort. Sogleich ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann weitere fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei Zentner empfangen hatte, zwei weitere dazu. Der aber einen empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kam der Herr dieser Knechte und forderte Rechenschaft von ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte weitere fünf Zentner dazu und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit weitere fünf Zentner gewonnen. Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit zwei weitere gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wußte, daß du ein harter Mann bist: du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht!
Wußtest du, daß ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht
ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.”

Früher ist mir dieser Text immer sauer aufgestossen. Legitimiert dieser Text nicht auf eine geradezu unanständige Art und Weise und grotesk karikierend ein brutal kapitalistisches Unrechtsdenken? Wie oft mag dieser Text in der Auslegungsgeschichte auch in dieser Weie missbraucht worden sein?

Faszinierend erscheint mir, dass unser Identifikationsopbjekt in diesem Gleichnis der Angsthase ist; der, der alles versteckt. Ihm entspricht das Gottesbild eines angsteinflössenden Willkürherrschers. Ich komme ins Grübeln. Wo bin ich wirklich dieser Angsthase? Wo finde ich meine Willkürherrscher? Gibt es Lebenssituationen, die bestimmt sind von einem Satz wie: "Herr, ich wußte, daß du ein harter Mann bist: du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast." In der Tat, wir fühlen uns oft als Opfer, ungerecht behandelt, ausgebeutet: Stress, Burnout Syndrom - das sind die Angstherrscher unserer Zeit für uns.

Ein christliches Gottesbild finde ich hier nicht. Also wäre nach einer anderen Deutung dieses Gleichnisses zu fragen. "Zentner" übersetzt Luther - das entsprechende griechische Wort lautet "to talaton", eine Gewichtseinheit, die höchste Gewichtseinheit zur Zeit Jesu, etwa 34 Kilo, entsprechend einem Geldwert von 6000 Drachmen. Auf dieses Gleichnis geht das deutsche Wort "Talent" zurück, als eine von Gott verliehene Gabe. Paracelsus (1537) war der erste, der versuchte mit dieser Deutung sich dem Gleichnis zu nähern. Wenn ich "talanton" so verstehe, finde ich in der Tat einen neuen Deutungssinn: Ich habe Talente, die mir von Gott verliehen wurden. Wenn ich mit diesen Talenten wuchere, bringen sie Frucht, vermehren sie sich, wachsen sie, dienen sie, helfen sie - und ich wachse mit. Ich habe eine Gabe, die Gott mir geschenkt hat. Ich habe eine bestimmte Fähigkeit und nur wenn ich sie einsetze, entwickelt sie sich. Hier stimmt auch das Bild des Herren, der mir dieses Talent gegeben hat, denn ich habe es nicht selbst erfunden, ich habe es nicht selbst erschaffen - es ist mir gegeben. Und er, der Herr erntet, wo er nicht gesät hat, sondern, er erntet, was ich aus dieser Gabe gemacht habe.

Ja, ich kann auch hier ein Angsthase sein. Es gibt Ängste, die mich dazu bringen können, meine Talente und Fähigkeiten nicht einzusetzen: keine Zeit; was sollen die anderen von mir denken; ich mach mich doch nicht lächerlich; die anderen sollen nicht denken, ich sei ein Streber / Karrierist; ich bin klein und unfähig; ich traue mich nicht, etc., etc....

Ich glaube, Jesus will uns mit diesem Gleichnis Mut machen, unsere Talente und Gaben einzusetzen und mit unseren Talenten zu wuchern. Gott hat uns Fähigkeiten und Gaben geschenkt und wenn wir sie einsetzen, wird uns weiterhin gegeben - genügend Kraft und Mut und Hoffnung: "Wer hat, dem wird gegeben".

Dieses Gleichnis ist gerade für uns sehr wichtig, die wir andere anstecken wollen, damit diese wiederum andere anstecken. Es ist für uns wichtig, die wir andere begeistern wollen, damit diese wieder andere begeistern. Setzen Sie Ihre ganz eigenen und ganz besonderen Gaben, die Sie von Gott erhalten haben ein. Haben Sie keine Angst. Wuchern Sie mit den Talenten, die Gott Ihnen gegeben hat und Sie werden mehr erhalten als Sie nötig haben.

Wenn Gott etwas gibt, dann hat er etwas mit uns vor... Nein, nicht um einen brutalen Kapitalismus und nicht um Ungerechtigkeiten, geht es in diesem Gleichnis, sondern darum dass Gott die von ihm geschenkten Gaben vervielfältigen wird, wenn wir sie nutzen, denn er weiß, dass unsere Kraft zu klein ist. Er verspricht, dass er seine Kraft dazu geben wird. Es ist gut, dass zu bedenken, wenn wir vor unseren Schülerinnen und Schülern stehen.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter September 2000)

Brief eines Lehrers an seine Klasse

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

"Am Montag werden wir uns wiedersehen. Ich bin gespannt auf Euch. Wie wird es Euch in den Sommerferien ergangen sein? Einige von Euch werden Muehe haben aus dem Bett zu kommen und sich quaelen. Andere werden sich freuen, wieder aus einer unerfreulichen Familiensituation freizukommen. Wird Benny seinen Liebeskummer ueberwunden haben? Hat Sylvia immer noch so viel Angst, etwas von sich zu offenbaren? Sven, den alle als Streber haenseln, hat er in den Ferien Gelassenheit und Ruhe gefunden? Sascha und Myra hatten die Versetzung gerade noch geschafft. Kehren die beiden mit Befuerchtungen oder mit Zuversicht ins Klassenzimmer zurueck? Knut kommt aus einer sozial schwachen Familie und leidet darunter, dass er in Sachen Outfit nicht mithalten kann. Babsi ist letztes Jahr neu in die Gruppe gekommen und hat es noch nicht geschafft Anerkennung zu finden. Am Montag geht die Schule wieder los. Und wir erwarten von euch, dass ihr puenktlich seid, dass ihr euch anstaendig benehmt, dass ihr engagiert und kritisch mitarbeitet. In Mathematik, in Deutsch, in Englisch und auch in Religion. Dieses Fach Religion ist Teil eures Stundenplanes, damit ihr zum Beispiel die Geschichte von Zachaeus kennenlernt:

Zachaeus war klein und fuehlte sich klein und war voller Sorgen. Ihn mochte keiner. Eines Tages erfuhr er, dass Jesus in die Stadt kommt. Und dass Jesus ein besonderer Mann war, der Menschen veraendern kann. Zachaeus kletterte auf einen Baum, um Jesus zu sehen in der grossen Menschenmenge. Und das Ueberraschende war: Jesus blieb stehen und entdeckte ihn im Baum, schaute ihn zaertlich an und sagte: Heute will ich zu dir kommen und dein Gast sein. Vor Freude und Schrecken fiel Zachaeus beinahe vom Baum herab. Fuer ihn aenderte sich an diesem Tag etwas ganz Entscheidendes in seinem Leben.

Das, was Zachaeus geschehen ist, wuensche ich euch: Dass ihr nicht nach Aeusserlichkeiten und nur nach Leistungen beurteilt werdet, dass ihr Lehrerinnen habt, die offen und grossherzig mit euch umgehen, die euch so lassen, wie ihr seid. Ich wuensche Euch, das jede und jeder mit allen Sorgen und Aengsten auch und gerade in der Schule spuert: “Ich bin ein wertvoller Mensch. Gottes Augen schauen mich zaertlich an." Dann wird es ein gutes Schuljahr werden. "

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind diejenigen, die diese Geschichten zu erzaehlen haben. Manchmal auch uns gegenseitig, manchmal auch uns selbst. Auch Sie als Pfarrerin und Pfarrer, als Lehrerin und Lehrer werden im kommenden Schuljahr sich erinnern duerfen: Wir brauchen nicht nur nach Ausserlichkeiten und Leistung uns beurteilen lassen. Denn Gott schaut uns zaertlich an. erinnern Sie sich daran und sagen Sie es weiter. Dann wird es ein gutes Schuljahr werden.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter August 2000)

Feriengrüße

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

übermorgen ist der letzte Schultag. Mit welchen Gefühlen beenden Sie dieses Schuljahr?

Einige werden froh sein, dass sie diese eine ganz besonders schlimme Klasse nun erstmal los sind. Andere müssen sich trennen von einer Oberstufengruppe, die ihnen ans Herz gewachsen ist, oder ein viertes Schuljahr, das nun einen anderen Weg geht. Wie immer gab es beglückende Erfahrungen und bedrückende Erlebnisse. Nehmen Sie beides mit in die Ferien und lassen Sie diese Erfahrungen ruhen und in Ruhe reifen. Bewahren Sie die schönen und unschönen Momente des vergangenen Schuljahres als Ihren persönlichen Erfahrungsschatz - Sie sind daran gewachsen. Sie beginnen das neue Schuljahr auf einer neuen Grundlage. Nichts wiederholt sich , auch wenn es so aussieht - es ist immer wieder alles neu. Und jeder neue Anfang bietet die Möglichkeit neuer Gestaltung.

Allen, die sich in diesem vergangenen Schuljahr in dem Fach ev. Religion um die Kinder und Jugendlichen gemüht haben, die ihnen nachgegangen sind, die um den einen oder anderen gekämpft haben und allen, die ernsthaft versucht haben einen “anständigen Religionsunterricht” zu verwirklichen möchte ich vom Religionspädagogischen Amt Giessen aus ganz herzlich für ihren Einsatz und ihr Engagement danken. Denn das ist nicht selbstverständlich.

Am vergangenen Freitag feierten wir an der St. Lioba Schule in Bad Nauheim einen Schulgottesdienst, in der eine Schulpfarrerin in ihren Dienst eingeführt wurde und einem Religionslehrer die Kirchliche Bevollmächtigung überreicht wurde. Als Grundlage für meine kleine Ansprache hatte ich das Jesuswort gewählt:

“Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt”.

Gott hat uns ausgewählt und für uns eine ganz bestimmte Aufgabe vorgesehen. Er erwartet etwas von uns, etwas ganz Bestimmtes! Von jedem von uns! Jede und jeder hat einen Auftrag. Gott hat etwas vor mit uns. Und er traut uns auch zu, diese Aufgabe zu bewältigen.

Vielleicht gehört die Aufgabe in der Schule zu unterrichten mit dazu. Zu erzählen von diesem Gott, der uns befreien will von lebensfeindlichen Mächten und Zwängen, der Gerechtigkeit will unter den Menschen. Den Jugendlichen so von diesem Gott zu erzählen, dass sie sich begeistern können. So zu unterrichten, dass diese Botschaft vom Leben für alle ansteckt, lebendig wird. Vielleicht hat Gott für uns diese Aufgabe vorgesehen, dass wir hingehen in die Schule und Frucht bringen und unsere Frucht bleibt.

Denn das ist sein Versprechen, dass unsere Frucht bleibt (oft sehen wir diese nicht). Er hat versprochen, dass unsere Frucht bleibt, das, was wir tun nicht umsonst ist, und dass er bei uns ist, bei dem, was wir tun. Denn diese Aufgabe haben wir uns nicht selbst gestellt, Gott hat uns erwählt und deshalb steht er hinter uns, steht uns zur Seite und geht uns auch gar manches mal voraus. Er freut sich mit uns über das was uns gelingt und er will uns trösten, wenn es einmal schwer und schwer erträglich wird. Bei allem alltäglichen Verrichtungen tut es mir gut, mich manchmal daran zu erinnern, dass meine Arbeit nicht alleine meine Erfindung ist, sondern auch eine Beauftragung von Gott.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter Juli 2000)