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Montag, 26. Juli 2010

Von der Notwendigkeit, neu sehen zu lernen

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Kürzlich ist mir ein Buch wieder in die Hände gefallen: “Die Füße nach oben. Zustand und Zukunft einer verkehrten Welt”. Autor ist Eduardo Galeano, einer der schärfsten Denker Lateinamerikas. Das Buch ist eine Bestandsaufnahme der Welt mit einem Blick von unten, mit einem Blick aus Lateinamerika -nicht von den Zentren her, sondern von der Peripherie. Da sieht man anders. Anders zu sehen kann und muß gelernt werden. Aus einem anderen Blickwinkel die Dinge betrachten, das ist eine Übung, die mir im Unterricht immer wichtiger wird, weil sie Offenbarungen schafft:

Ich sehe Neues. Ich sehe Dinge, die ich nicht entdecken soll. Ich widerstehe den gängigen, herrschenden Interpretationsmustern. Immer dann wenn es mir gelingt, mit den Schülern gemeinsam einen neuen Blickwinkel einzunehmen, wird Unterricht spannend. Eine aktuelle politische Anmerkung: Es beschleicht mich zunehmend der Verdacht, dass man uns gegenwärtig dazu bringen will, die aktuelle weltpolitische Lage aus einem ganz bestimmten festgelegten Blickwinkel zu sehen. In mir wächst der Verdacht, dass die Wahrheit dabei auf der Strecke bleiben wird.

Das Buch von Galenao ist für uns in den Metropolen eine Sehschule. Und als Schule ist es angelegt. Es versucht aufzudecken, wie die verkehrte Welt uns schulen will, damit wir diese verkehrte Welt als richtige Welt sehen und verstehen und bestätigen. Das Inhaltsverzeichnis nennt sich Lehrplan und die einzelnen Kapitel lauten: Grundkurs in Ungerechtigkeit, Angstunterricht, Meisterklassen in Straffreiheit, Pädagogik der Einsamkeit. Das Buch endet mit der Gegenschule und dem Recht auf Phantasie.

Eine Leseprobe:
“Vom Standpunkt des Ostens der Welt aus ist der Tag des Westens die Nacht. In Indien tragen die Trauernden Weiß. Im alten Europa war Schwarz. die Farbe der fruchtbaren Erde, auch die Farbe des Lebens und das Weiß, die Farbe der Knochen, war die Farbe des Todes. Den weisen Alten der Region Chocó in Kolumbien nach waren Adam und Eva schwarz, und schwarz waren auch ihre Söhne Kain und Abel. Als Kain seinen Bruder mit einem Knüppelhieb erschlug, tobte Gott vor Wut. Im Angesichts des Zornes Gottes erbleichte der Mörder vor Schuldgefühl und Angst, und er wurde so bleich, dass er bis an das Ende seiner Tage weiß blieb. Wir Weißen sind also alle Nachkommen des Kain.” Als Religionslehrerinnen und -lehrer, als Pfarrerinnen und Pfarrer sind wir berufen zu fragen: Wie sieht der Blick Gottes aus? Einen anderen Menschen mit Augen Gottes sehen, in ihm den von Gott so gewollten Menschen erkennen, das ändert vieles. Mit Gottes Augen auf den Krieg gegen Afghanistan und gegen den Terrorismus schauen. Was ändert sich dann? Meine Wege sind nicht eure Wege und meine Gedanken sind nicht eure Gedanken. Das ist die radikalste Sehschule, die es gibt. Lassen Sie uns in diese Sehschule gehen, damit wir Gottes Blickwinkel unterrichten können.


Herzliche Grüße, Uwe Martini, Studienleiter

(aus Newsletter November 2001)

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