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Montag, 26. Juli 2010

Auf Entdeckungsreise in der Jugendkultur

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lieber Bernd

Ich möchte Ihnen gerne zu Beginn einige Äußerungen von Jugendlichen vortragen. Konfirmandinnen und Konfirmanden auf die Frage wie wohl die Welt und das Leben auf dieser Welt entstanden sein mag.

Björn: Eigentlich habe ich über solche Fragen noch nie richtig nachgedacht. Das, was in der Bibel steht ist zwar schwer vorzustellen, aber es erscheint mir logischer als die Theorie mit dem Urknall.

Maike: Ich stamme von meinen Eltern ab, diese wiederum von ihren und diese ebenso von ihren. Doch diese Spur verliert sich irgendwann. Wendet man sich mit diesen Fragen an die Naturwissenschaften, erhält man meistens die Urknalltheorie als Antwort. Doch was war davor, vor der Entstehung des Weltalls? Auch die Erklärung der Kirche kann mich nicht wirklich überzeugen. Ist die Menschheit wirklich aus zwei einzelnen Individuen entstanden? Ich selbst kann mir diese Fragen nicht richtig beantworten. Vielleicht müssen wir einfach mit dieser Unwissenheit leben, bis wir eine für uns plausible Antwort gefunden haben, wenn dies auch ein Leben lang dauern kann.

Melissa: Ich bin eine Seele in einem Körper. Ich bin zwar auch ein Körper, doch denke ich, dass ich niemand anders wäre, hätte ich schwarze Haare und eine braune Haut. Vielmehr macht meine Seele mich aus, in der meine Erinnerungen gespeichert sind und aus der heraus mein Wille stammt. Mein Körper reagiert auf meine Seele, zum Beispiel mit Müdigkeit oder Krankheit. Wenn ich sterbe, stirbt mein Körper, nicht aber meine Seele.

Steffen: Ich bin ich. Ich stamme aus der Spezie Mensch und lebe unter ihnen. Ich halte mich nicht für etwas besonderes, trotzdem bin ich nicht nur einer unter vielen.

Bennie: Die Erde ist vor sehr langer Zeit entstanden durch den sogenannten Urknall. daran waren viele Meteoriten, Kometen und anderes Zeugs schuld, die sich nach und nach angesammelt haben und schließlich zu dem wurden, was wir heute Erde nennen. Wo jetzt aber diese Kometen, das Leben, die Atmosphäre, das Wasser und er ganze Rest hergekommen sind, das weiß ich nicht.

Klara: Alles, was existiert, so wie wir Menschen, hat einen Anfang und ein Ende. Von den Wissenschaftlern bekommt man erzählt, dass es vor Abermillionen Jahren einen Urknall gegeben haben muss. Im Religionsunterricht lernen wir, dass Gott die Welt erschaffen hat. Aber ich glaube, dass keines von beiden wahr ist und man die Wahrheit darüber nie erfahren wird.

Gedanken, Überlegungen, Glaubensvorstellungen von Jugendlichen. Wenn wir uns als Pfarrerinnen, Religionspädagogen oder Seelsorgerinnen auf den Weg machen um solche jugendliche Lebenswelten und Gedankenwelten zu erkunden , ergeht es uns wie den Stammesforschern, die in unbekannte Welten vorstoßen und die Lebensbedingungen fremder Stämme und Völker studieren. Wir zeichnen Landarten von uns unbekannten Gegenden, beobachten intensiv, oftmals ohne zu verstehen und verstehen zu können. Wir beschreiben und versuchen zu deuten, scheitern, weil wir deuten mit den Kriterien unserer Verstandes- und Lebenswelten und verstehen nicht, dass wir uns in Gefahr befinden uns zu verirren.

Wir sehen keine ausgetretenen Pfade vor uns , sondern befinden uns mitten in einem unübersichtlichen Dschungel. Und auch wenn wir bspw. Lexika der Jugendsprache aufstellen, sprechen wir nie ihre Sprache. Das muss man wissen und dessen muss man sich bewusst sein, bevor man sich auf Jugendliche und ihre Welten einlässt. Dennoch ist es unbedingt notwendig, sich ihnen zu nähern und zu versuchen Jugendliche in ihren Lebenswelten zu verstehen. Dies kann nur gelingen, wenn wir versuchen aus der Perspektive der Jugendlichen zu blicken und aus ihrer Perspektive unsere Welt zu verstehen, so paradox dies auch klingen mag. In der Religionspädagogik bezeichnen wir diesen Versuch mit dem Begriff des Perspektivenwechsels.

Ein kleines Beispiel: Warum gehen die Jugendlichen zur Konfirmation? Wenn wir sie befragen, erhalten wir oft die Antwort, der Geschenke wegen und des Geldes. Dies ist eine Einschätzung, die in unseren Kreisen und unseren Kirchenvorständen durchaus gerne negativ und abwertend tradiert wird. Dies ist eine Legende. Natürlich werden die Jugendliche so antworten denn die Alternative bestünde darin zu sagen: „weil ich meinen Glauben stärken möchte“ oder „weil ich an Gott glaube“ und das wäre ein öffentlicher Bekenntnisakt. Aber diese Angelegenheit ist wesentlich vielschichtiger. Die aktuelle Konfirmandenstudie bringt folgendes Bild: 58 % der befragten Jugendlichen nennen als Motivation zur Konfirmation in der Tat Geld oder Geschenke – 55 % wollen ein großes Familienfest feiern. Dies sind die EKHN Werte, bei den EKD Daten ist diese Reihenfolge umgekehrt. An dritter und vierter Stelle wird genannt: der Segen mit 48% und die Stärkung des Glaubens an Gott mit 41% . Die Jugendlichen möchten beschenkt, gefeiert, gesegnet und gestärkt werden. Der vermeintliche Widerspruch Geld oder Segen löst sich auf in den unmittelbar deutlich werdenden Wunsch wertgeschätzt zu werden: Beschenkt , Gefeiert und Gesegnet.

Dies soll die zentrale These meines heutigen Impulsreferates sein. Jugendliche heute suchen nach Wertschätzung, denn unsere Gesellschaft verweigert ihnen diese Wertschätzung.

Als die Konfi Studie Anfang März veröffentlicht wurde, ging durch die Nachrichten das Attentat von Winnenden. Ich saß an meinem Schreibtisch zuhause und versuchte eine erste vorsichtige Einschätzung der Daten der Studie und schrieb gerade an diesem Gedanken, dass es den Jugendlichen heute in unserer Gesellschaft fehlt wertgeschätzt zu werden, dass sie gefeiert werden wollen, im Mittelpunkt stehen wollen, beschenkt werden wollen, nach Zuneigung suchen und hörte während ich es schrieb – wie gleichsam das Echo meiner Schrift in den Worten eines Polizeisprechers im Radio, der mit meinen Worten zur Konfistudie, das Profil des vermeintlichen Attentäters beschrieb.

Wie nehme ich die Lebenswelten der Jugendlichen war? Man kann vieles dazu sagen. Ich möchte mich uf einen Aspekt beschränken: Den Plural. Jugendliche leben in mehreren Welten gleichzeitig. Und das können sie phantastisch. Darin sind sie enorm kompetent. Es gibt keine einheitlichen Jugendszene mehr. Vor ein paar Jahren habe ich auf DeKonf uns Synoden noch erzählt, dass es keine einheitliche Jugendkultur mehr gibt, dass Jugend an sich nicht mehr definierbar ist in einer Gesellschaft, die das Jugendideal als Leitmotiv gewählt hat und in der auf der einen Seite biologisches Erwachsensein viel früher einsetzt, Unabhängigkeiten zumal wirtschaftliche aber viel später als bspw. in den 50er Jahren beginnen. Mittlerweile ist dieser Prozess deutlich vorangeschritten. Es gibt auch keine eindeutigen und einheitlichen Milieus mehr, wie noch in den 70ern und 80ern und Anfang der 90er. Voneinander abgetrennte Jugendszenen gibt es kaum mehr, anstelle dessen vermischen sich die Milieus untereinander und mit der virtuellen Welt und machen den Raum frei für multidimensionale Identitäten. Jugendliche wechseln von einem Milieu ins andere und fühlen sich sowohl hier wie da zuhause. Sie lassen sich dadurch nicht auf Rollen festlegen wie vor Jahren die Punks, oder die Popper. Die unterschiedlichen Lebensmilieus der Jugendlichen haben ihre je eigenen Regeln (das ist gut, denn in einem der Regelsysteme wird jede und jeder eine Chance haben und aufblühen). Jugendliche spielen in und zwischen diesen Systeme meisterhaft.
Das ist für uns Ältere schwer vorstellbar, weil wir in der Regel milieugebunden leben und milieugebunden auch unsere Identitäten finden und entwickeln. Jugendliche entwickeln ihre Identitäten quer zu den Milieus und quer zu den verschiedenen Kulturen. Deshalb sind wir wie Stammesforscher, weil wir uns diese Lebensart nur schwer vorstellen können.

Auch die Religion, auch die Kirche wird hier zu einem Milieu oder zu einer Kultur, in der sich Jugendliche bewegen lernen. Was bedeutet es für die Herausbildung einer religiösen Identität, wenn von Anfang an die religiöse und diese nochmal unterschieden von der kirchlichen Wirklichkeit eine Wirklichkeit neben vielen anderen war und ist. Die Eltern der Jugendlichen in unserer Gemeinde in Staufenberg wundern sich oft darüber, wie brav ihre Kindern als Konfirmandinnen und Konfirmanden sind. Sie bewegen sich in diesem Milieu nach völlig anderen Regeln als in ihrem Milieu Familie, hier sind sie ganz anders. Religion wird dabei von Jugendlichen heute von Anfang an erlebt als plurales Phänomen. Nicht wenige Kinder haben Eltern, die unterschiedlich religiös geprägt sind, die Klassenkameraden sind Muslime, die Auseinandersetzung der Kulturen und Religionen ist täglicher Stoff der Nachrichten und der Erwachsenengespräche. Die Vorstellung, dass es nur eine Kirche, eine Religion, einen Gott geben könne, ist jenseits der möglichen Vorstellungen. In meiner Jugend hingegen fiel es mir schwer – über Religionsunterricht und kirchliche Jugendarbeit vermittelt - zu erkennen, dass es Menschen gibt, die anders religiös denken und fremden Gottesvorstellungen in meinen Gedanken einen Platz einzuräumen. Die Katholischen waren bei uns auf dem Dorf schon Exoten genug.

Für die Jugendlichen heute ist die Wahrheit der Fremdreligion seit der 1. Klasse spätestens wenn nicht seit dem Kindergarten Teil ihrer erlebten Wirklichkeit. Zu den unterschiedlichen und miteinander kommunizierenden und sich vermischenden Milieus kommen so auch unterschiedliche Wahrheitssysteme, mit denen Jugendliche sehr gut umgehen können. Besser manchmal als wir.

Die unterschiedlichen Systeme von Weltanschauungen werden von Jugendlichen oft nur fragmentarisch zur Deutung von Wirklichkeit in Anspruch genommen werden. Früher nannte man das Patchwork-Religion, aber Patchwork hat zu sehr den Charakter der Selbstbedienung im Supermarkt: Ich nehme mir hiervon etwas und hiervon etwas. Ich glaube so funktioniert es heute nicht mehr. In den Deutungssystemen der Jugendlichen gibt es Felder die doppelt und dreifach besetzt sind. Da können drei Gottesbilder neben und übereinanderstehen: Der Vatergott, der Reinkarnationsgott und der Gott, der in allem ist, was die Natur hervorbringt. Und es gibt Felder die sind leer, da gibt es noch keine Deutungen. Aber das schmerzt Jugendliche auch nicht. Weltanschauliche Leerstellen werden nicht als problematisch empfunden: „Da habe ich eben einfach noch nicht drüber nachgedacht“, oder „da wird man die Wahrheit wohl nie erfahren“, wie Klara und Bennie es zu Beginn dieses Referates ausdrückten. Das Gewebe hält sowohl die Doppelttexturen als auch die Löcher gut aus und es trägt und reißt nicht.

Was geschieht hier? Ich glaube, dass sich Wahrheit personifiziert. Die Gegenwart sich überlappender Systeme führt dazu, das Wahrheit begriffen wird nicht als ein System von Aussagen sondern Wahrheit wird identifiziert mit einem authentischen Zeugnis. Wenn eine Person glaubwürdig ist, vertritt sie Wahrheit. Jugendliche lernen an Vorbildern. Jugendliche lernen anhand der Personen, die sich ihnen in den Weg stellen und die ihnen einen Weg zeigen, dass Leben zu meistern. Beziehungen sind der Schlüssel zum Verständnis der Lebenswelten Jugendlicher. Wahrheit konstituiert sich für Jugendliche nicht in Aussagen und in Systemen, in Kirche und Institutionen, nicht in Regelsystemen und Überzeugungen, sondern in den Beziehungen, die dieses Gewebe zusammenhalten und Überzeugungen unterschiedlichster Art miteinander verknüpfen.

Deshalb stimmt der Begriff Patchwork nicht mehr, denn Patchwork, das sind Flicken, die miteinander vernäht werden und am Schluss habe ich eine zusammengestoppelte bunte Decke oder Jacke, aber eigentlich gehört da nichts zusammen und die Nähte sind die Schwachstellen, denn die können reißen. Jugendliche sind mittlerweile weit jenseits der Patchworkwelten, sie „weben“ ihre Wirklichkeit. Um den englischen Begriff zu nehmen: es ist ein Web, ein Gewebe, eine Textur, in dem sie leben und dieses Web umschließt das world wide web ebenso wie die verschiedene sozialen und weltanschaulichen Milieus. Aus diesen Fäden weben Jugendliche Ihre Wirklichkeit und ihre Identität und die ist lebensfähig, tragfähig, stabil. Aber uns ganz fremdartig.

Unsere Aufgabe kann es sein, den christlichen Glauben als einen Faden zur Verfügung zu stellen, damit die Jugendlichen ihn in ihre Texturen hineinweben können. Möglicherweise kann es sein sehr fester Faden sein oder der sprichwörtlich rote Faden.

Das kann aber nur gelingen – und jetzt kehre ich zum Beginn meiner Ausführungen zurück- wenn wir den Jugendlichen mit Wertschätzung entgegengehen. Als ich mein Abitur machte, hatte ich das Gefühl, die Welt würde geradezu auf mich warten. Für Jugendliche heute muss sich diese Erinnerung anmuten wie eine Erzählung aus 1001 Nacht.

Denn unsere Gesellschaft ist sich in sich selbst genug. Ihre Botschaft an die Jugendlichen ist: Wir brauchen euch nicht. Und wenn wir als Kirche den Jugendlichen den christlichen Glauben als Angebot für ein gelingendes Lebens nahebringen wollen, dann ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns ernsthaft für sie interessieren. Das klingt banal ist es aber nicht.

Ich möchte Sie gerne ermutigen in ihrem Lebens-und Arbeitsvollzügen nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir Jugendlichen Wertschätzung entgegenbringen können. Damit unsere Jugendlichen in einer Gesellschaft, die ihnen Wertschätzung verweigert, eine andere Wirklichkeit entdecken können, in der sie beschenkt, gefeiert und gesegnet werden. Wir sind es den Jugendlichen schuldig, denn wir leben als Christen aus der Wirklichkeit eines Gottes heraus, der uns so sehr wertschätzte, das er selbst zu einem Menschen wurde.




Uwe Martini
(Zur Amtseinführung von Bernd Nagel als Studienleiter für Seelsorge in Friedberg 2009)

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