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Montag, 26. Juli 2010

Geschenkte Zeit in der Schule

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

"Tja, nun ist es passiert, das erste Mal in meiner Laufbahn als RU-Lehrerin, dass ich keine Lust auf Schulanfang habe. Sonst habe ich immer vor Ideen gesprüht, aber im Moment tröpfelt es noch nicht mal. Die Erwartungen der Schüler an mich sind ins Unermessliche gestiegen, aber die Bereitschaft, dafür auch mal was zu leisten, und sei es nur, zu Beginn der Stunde ruhig zu sein, ist Limes gegen Null."

Soweit die Nachricht einer Kollegin zum Beginn der Schule nach den Weihnachtsferien. Wir alle kennen Momente des Frustes und der Niedergeschlagenheit. Ich war überrascht, von wie vielen Seiten ich in diesem Januar solche oder ähnlich Äußerungen hörte. Und dann fiel mir vor einigen Tagen ein alter Text von Jürgen Moltmann in die Hände. Moltmann schreibt dort über das Erstaunen: "In der zeitlichen Wirklichkeit des Lebens wiederholt sich nichts im strikten Sinne, sondern jeder Augenblick ist einmalig. Deshalb ist nur das Erstaunen in uns fähig, den einmaligen Augenblick zu erfassen. Wer nicht mehr staunen kann, wer sich an alles gewöhnt hat, wer nur noch routiniert wahrnimmt und reagiert, der lebt an der Wirklichkeit vorbei. Jede Chance ist einmalig. Das gehört zu ihrem Wesen. Es gibt nicht zweimal dieselbe Chance.

Es gibt keine "zweite Chance", denn die Zeit ist irreversibel. ... Wir erstaunen oft auch darüber, daß wir selbst da sind, obgleich wir nicht wissen, warum oder wozu wir da sind. Die das in Erstaunen versetzt, erfahren auch, daß sie wirklich da sind und nicht eine Illusion darstellen. Das heißt, durch Erstaunen erfassen wir das Dasein der Welt und unser eigenes Dasein. Das Was und Wie begreift man später. Das einfache Dasein aber begreift man nie. Es bleibt erstaunlich. Ist es nicht wichtig, unser Erkennen und die Vorstellungen, die wir aus Erfahrungen bilden, und die Begriffe, mit denen wir unsere Vorstellungen ordnen, immer wieder auf das elementare Erstaunen über das Dasein selbst zurückzuführen? Es könnte sonst geschehen, daß wir nur noch unsere Wahrnehmungen wahrnehmen, aber von den Phänomenen nichts mehr sehen. Es könnte sonst geschehen, daß wir nur noch sehen, was wir sehen wollen, und fast blind durch das Leben gehen. Es könnte sonst sein, daß wir die anderen Menschen nicht mehr erkennen, weil wir sie auf unsere Vorurteile über sie festgelegt haben und nur diese bestätigt haben wollen. Es könnte sonst sein, daß wir die Produkte unserer religiösen Phantasie für Gott halten und von dem lebendigen Gott nichts merken. Die Wirklichkeit ist immer überraschender, als wir uns vorzustellen vermögen. Menschen, die wir in ihrer Eigenart achten, bleiben für uns erstaunlich und unser Erstaunen öffnet unserer Gemeinschaft mit ihnen die Freiheit für neue Möglichkeiten der Zukunft."

Soweit der Text von Jürgen Moltmann. Wann waren Sie das letzte mal darüber erstaunt, Lehrerin / Lehrer zu sein? Wann waren Sie das letzte Mal erstaunt, dass Sie in die Schule gehen, um Kindern oder Jugendlichen die erstaunliche Frohe Botschaft unseres Gottes weitersagen zu können? Wann hat Sie eine Schülerin / ein Schüler das letzte Mal richtig in Erstaunen versetzt?

Ich habe mir vorgenommen in Zukunft wieder einmal stärker bewußt drauf zu achten, was mir selbstverständlich wurde mit der Zeit. Ich habe mir vorgenommen jeden Arbeitstag nicht als Teil einer Routine mir widerfahren zu lassen, sondern als einen einmaligen Tag meines Lebens zu begrüßen. Ich möchte gerne jedes Mal, wenn ich in die Schule gehe darauf achten, dass ich dabei bin, eine einmalige und nicht wiederkehrende Situation mit meinen Schülern zu erleben. Vielleicht gelingt es mir. Versuchen Sie es doch auch einmal. Es wäre schön, wenn die Zeit nicht mit uns machen kann, was sie will, sondern wir jeden Tag als von Gott geschenkte einmalige Zeit erleben können.

Ihr Uwe Martini
(aus Newsletter Februar 2001 )

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